Hirtenbrief #15

Florian mit Schafen

Krähen

Morgens bekommt Florian eine Nachricht per Handy: Im Pferch liegt ein totes Schaf. Als er an der Herde ankommt, liegen die meisten Tiere noch wiederkäuend im Gras. Dazwischen ein Schaf, auf dem einige Krähen hocken.. Florian zieht das tote Tier über die Wiese und hebt es über den Zaun. Er vermutet eine Pflanzenvergiftung. Die Krähen folgen flatternd und stolzierend mit etwas Abstand und sehen missmutig zu, wie das Schaf in den Hänger verladen wird. Zwischen zweihundert liegenden Tieren haben sie mit sicherem Blick das tote Schaf erkannt.

Was der Abdecker kann- und was jahrhundertelang auch Aufgabe der Schäfer war, und sie lange zu einem unehrenhaften Beruf machte - können sie schon lange. Seit Urzeiten tragen sie auf ihre Art dazu bei,. dass sich im ewigen energetischen Nullsummenspiel von Werden und Vergehen der empörende, aber unabänderliche Wandel der Gestalten vollzieht. Mit schrägem Kopf sehen sie zu, wie die Menschen ihnen dabei ins Handwerk pfuschen. Ihr Ruf ist schlecht. Sie werden als Galgenvögel beschimpft, obwohl kein Krähenvolk je einen Galgen errichtet hat.

Die Verhaltensbiologen erzählen uns, dass diese schwarzen Vögel klüger sind als Hund und Katze. Umso mehr wir über sie erfahren, umso mehr irritiert uns ihr Blick und die Frage, wer uns da ansieht. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum sie bei manchen Leuten verhasst sind, wie der fliegende Gottseibeiuns. Und warum manche camouflierten Jagdgesellschaften es unterhaltsam finden - legal, illegal, scheißegal - sie in obsessiven Vernichtungsorgien zu Dutzenden und Hunderten abzuknallen. Sie sind uns nicht geheuer und wir ihnen auch nicht. Aber nur sie haben Grund dazu.

Ex oriente lux oder: Am Anfang war das Schaf

Mitteleuropa ,das sich auf etliche seiner kulturellen Errungenschaften zurecht nicht wenig einbildet, verdankt gleich zwei für Europa fundamentale kulturelle Impulse dem Vorderen Orient: Den Wechsel vom wildbeuterischen Nomaden zur sesshaften Lebensweise und das Christentum. Vermutlich hat das den aktuellen Abendlandverteidigern noch keiner gesagt. Aber man kann ja als besorgter Bildungsbürger auch nicht alles wissen.

Seit etwa 10 000 v. C., noch vor den Städten in Mesopotamien und noch sehr lange vor dem Anfang, mit dem das Wort zu Gebot und Gesetz der Heiligen Schrift wurde, begannen die Menschen im Fruchtbaren Halbmond, dem sichelförmigen Band zwischen Persischem Golf und der Halbinsel Sinai, Schafe, Ziegen und später auch Rinder zu züchten. Sie leiteten damit die neolithische Revolution ein, die bis heute fortwirkende Mutter aller Revolutionen. Jahrtausende lang zogen die Herden dann über die Ebenen des Zweistromlandes und des gesamten Nahen Ostens.. Zwar gab es im weiteren Verlauf nicht nur eine Hirten-, sondern auch eine damit verflochtene Ackerbauernkultur, aber aufgrund der für Fruchtanbau vielfach ungünstigen Bodenverhältnisse behielten die Hirten ihre besondere Bedeutung.

Lange glaubten diese Menschen an verschiedene Götter, meist Tiergötter, über die wir wenig wissen, aber irgendwann beteten sie nur noch zu dem EINEN Gott. Dieser Gott , der der Gott der Juden , Christen und Muslime werden sollte, ist von seinen ersten Anfängen her und noch lange danach ein Hirtengott. Im Neuen Testament der Christen wird er als Lamm Gottes die in Sünde und Erbsünde gefangene Menschheit erlösen

Das christliche Abendland nimmt seinen Anfang im Morgenland bei den Hirten auf dem Feld. Nicht erst seit der Geburt Jesu im Stall, wo das Kind in die Krippe gebettet wird, sondern schon Jahrtausende vorher bei den Schafherden in den Tälern und auf den Hügeln der Levante.

Zivilisation durch Migration

In Zentraleuropa tauchen die revolutionären Neuerungen Landwirtschaft und Viehhaltung etwa ab 6000 v.C. auf. Die Archäologen gingen zunächst davon aus, dass die Kenntnis von Ackerbau und Viehzucht über viele Generationen hin in einer Art kultureller Lernstafette mit Dominoeffekt über Land und Meer bis zu den hiesigen Jäger und Sammlerkulturen weitergegeben worden war. .Diese lebten bis dahin in Busch und Wald ein durchaus einträgliches Leben von der Hand in den Mund .

Die Frage der Sesshaftwerdung und ihrer Motive ist immer noch ein nicht wirklich gelöstes Rätsel der Anthropologie. Gesichert ist nur: Hunger und Not waren wohl nicht der Grund. Sammler und Jäger führten kein schlechtes Leben und die Sesshaftwerdung geschah eher aus einer Situation des Überflusses heraus. Die Arbeitszeit war deutlich kürzer als irgendwann danach, der Ernährungszustand besser als bei den ihnen folgenden Bauern. Eigentlich ein Zustand, den die Bibel als paradiesisch beschreibt. Einige vermuten, dass das Brauen von Bier der Grund für den regelmäßigen Anbau von Getreide war - mithin ein zutiefst ehrenwertes Motiv . Oder war das der Sündenfall?

Die neu entstandene Disziplin der Paläogenetik mischt zur Zeit die überkommenen Gewissheiten der Archäologen mit überraschenden Erkenntnissen auf. Zum nicht geringen Erstaunen der einschlägigen Wissenschaftler wies sie nach, dass Sesshaftwerdung, Viehhaltung und Landwrtschaft nicht durch eine Art kommunikatives Lauffeuer vom Vorderen Orient zu den zentraleuropäischen Sammlern und Jägern gelangt ist, sondern dass eine lang anhaltende Wanderungsbewegung von Bauern und Hirten die Kultur von Landwirtschaft und Herdenhaltung nach Mitteleuropa mitgebracht hat.

. Die jüngst als gefährliches Einfallstor von kulturell bedrohlichen Fremdlingen entdeckte Balkanroute ist 8000 Jahre alt und war die Straße von Einwanderern, die Zentraleuropa den größten zivilisatorischen Fortschritt aller Zeiten gebracht haben. .Zivilisation durch Migration! Für einige national befreite Krisengebiete in Dunkeldeutschland besteht insofern durchaus noch Hoffnung.

Es kamen nicht nur die Vorfahren unserer Schafe ,Ziegen und Rinder aus dem Orient, sondern es kamen auch die Menschen die diese Kultur dann hier lebten. .Ob die eingeborenen Sammler und Jäger sich in diese eingewanderte Hirten- und Ackerbauernkultur integrierten, oder ob sie sich in die verbliebenen sächsischen Wälder zurückzogen, ist nicht überliefert..

Wegbegleiter durch Epochen

Die Hirten begleiteten Europa durch das Ende der Steinzeit, über die Bronzezeit bis zum Beginn der Eisenzeit .Sie waren Zeugen beim Aufstieg des Christentums und beim Untergang des römischen Reiches. Sie überdauerten die Völkerwanderungen und die chaotische Dunkelheit, die jahrhundertelang das Erbe Westroms war. Durch die Welt des Mittelalters, durch Dörfer und vor den Mauern der Städte , bei Kirchweih und Ketzerverfolgung zogen jahrein, jahraus die Schäfer durchs Land als Hüter der Gemeindeherde oder im Auftrag von Feudalherren und Klostergütern. Als Wanderschäfer im Auftrag der Bauern oder zu ihrem Leidwesen, wenn die Herde des Feudalherren auf jedem Bauernacker privilegiert war. Sie zogen durch Flussniederungen und über Bergwiesen, durch Sommer und Winter, durch Wohl und Wehe, Unwetter, Pest und Dürre .

Als Lieferanten von Wolle, Fleisch, Fellen ,Milch und Käse gehörten zu Europa landauf landab seine Schäfer. Auch und besonders, als England zu dem Land wurde, in dem die Schafe die Menschen fraßen, die Bauern in die Städte vertrieben und die Kirchen zu Schafställen wurden, weil Wolle mehr einbrachte als Getreide. .Sie überstanden, mal hoch angesehen, mal als unehrenhaft verfemt, mit ihren Herden die bitteren Zeiten der kleinen Eiszeit, in der die Missernten sich häuften und mit der die Neuzeit begann.. Sie überdauerten die Hexer- - und Hexenverbrennungen und die Bauernkriege, den Hundertjährigen und den Dreißigjährigen Krieg.

Der Schäfer war die Urgestalt, die Europa durch alle Zeiten begleitete und die jedem zurückscheint in die Kindheit, selbst wenn es sie dort niemals gab.

Diese Urgestalt war nicht der Krieger. Die römischen Legionäre siegten sich zu Tode, weil sie mit jedem Sieg die Grenzen des Reichs vorantrieben bis das römische Hinterland das Interesse an seinem Imperium verlor und das Reich zerfiel. Die Ritter gingen unter im Pulverdampf. Später, wenn das Land ausgeblutet und verwüstet war, wurden die Landsknechte nach Hause geschickt. Aber der Schäfer war noch da für den Neubeginn aus Zerstörung und Hunger..

Es war auch nicht der Priester. Europa war der Erdteil, der nach verheerenden Religionskriegen aus seiner Geschichte letzten Endes den Schluss zog, dass sein Reich von dieser Welt war und dass es eine andere Welt nur für die Gläubigen gab.. In Canossa musste der Kaiser sich dem Papst unterwerfen, aber zum Schluss siegten die weltlichen Kronen über die Tiara. Dennoch mussten Fürsten, Könige und Kaiser schließlich für immer gehen. Und die Philosophen und Naturforscher überließen am Ende den Priestern nur den Platz, den die Gläubigen ihnen gaben..

Was aus dem Bauern, dem uralten Gefährten und Gegenspieler des Schäfers wird, ist ungewiss.. Zu viele Fragen stellen sich zu der Landwirtschaft, die mit der Mafiadrohung „Wachsen oder weichen“ entstanden ist. Mit den Worten des Paten: : Er hat zu viele Angebote erhalten, die er nicht ablehnen konnte. Jedenfalls glaubte er das..

Was wird aus ihm, wenn er das Feld räumen muss, weil die Propheten des Weltmarkts ihn getäuscht haben und der Schweinezyklus doch einen neuen Tiefpunkt ansteuert, weil Schalke 04 - Präsident Tönnies seine Schweinefabriken jetzt in Russland baut, statt in Cloppenburg?

Was wird, wenn in China, Vietnam oder Indien die Ausbeutung der Nutztiere und der Schlachthofarbeiter noch brutaler, massenhafter und billiger erfolgt, als es bei uns durchsetzbar ist und deswegen der deutsche Fleischexport einbricht? Wird der Bauer dann vollends zum scheinselbständigen Vertragslandwirt im Dienste der Agrarkonzerne?

Wie geht es weiter, wenn die Herbizid - und Antibiotikaresistenzen zunehmen, die Kosten für Saatgut, Herbizide und Insektizide steigen und das genveränderte Sojafutter zu teuer wird, weil sich in Brasilien die Erosion schneller ausbreitet, als die Brandrodungen?

Was wird, wenn wie in Andalusien die Dürre seit Jahren zunimmt, die Grundwasserreservoirs demnächst leergepumpt sind und die Tomaten dann ohne Wasser auch im Folientunnel und die Oliven auch als flurbereinigte Plantage nicht mehr wachsen?

Was wird schließlich, wenn die Zyniker sich irren, Europa doch nicht zu den Gewinnern des Klimawandels gehört und sich stattdessen Dürre oder Vernässung ausbreiten?

Wie auch immer: Auch dann ist der Schäfer noch da, der als einziger Fleisch, Milch und Wolle aus Steppengras herstellen kann und der durch Beweidung die Deiche schützt und die alten Kulturlandschaften erhält zwischen Meer und Gebirge.

King Cotton

Mit der Industrialisierung begannen für die Schäfer schwierige Zeiten..Als seit dem 18. Jahrhundert mit der Erfindung der dampfgetriebenen Spinn- und Webmaschinen, getrieben von der kohlefressenden Textilindustrie die Industrie in England und Deutschland wie eine monströse Walze übers Land zog, entstand durch die mechanisierte Verarbeitung, der alten Kulturpflanze Baumwolle, die es in Asien und Afrika seit jeher gab, aber nicht in Europa, der Wolle eine starke Konkurrenz.

Die billige Schwester der Wolle warf Textilien in bis dahin unerhörten Mengen auf den Markt, weil sie von zwei Umständen profitierte: Sie beruhte auf einer globaliserten Sklavenwirtschaft und ihre Verarbeitung war technisch weniger anspruchsvoll als die der Wolle, sodass die Wolle in diesem rasenden Wettlauf ins Hintertreffen geriet.

Zu den Größenordnungen schreibt der amerikanische Historiker Sven Beckert: „Um die Menge an Wolle zu produzieren, die der heutigen Baumwollernte entspricht, bräuchte man etwa sieben Milliarden Schafe. Diese sieben Milliarden Schafe würden etwa 700 Millionen Hektar Weideland benötigen, etwa die 1,6 fache Menge der heutigen EU. Heute erzeugt und verbraucht die Welt mehr Baumwolle als je zuvor. Das, obwohl nunmehr auch der Baumwolle eine neue Konkurrenz erwachsen ist. Heute werden jedes Jahr etwa 52 Millionen Tonnen Kunstfasern auf Erdölbasis hergestellt, z.B. für Fleecebekleidung, fast doppelt soviel wie die weltweite Baumwollproduktion.“

Allerdings ist ,wie kürzlich entdeckt wurde, Erdöl eine endliche Ressource. Wir tun bekanntlich weiterhin unser Mögliches, damit sie zu Ende geht. Insofern sind wir on the long run zwar alle tot, aber die Aussichten für Wolle und Baumwolle sind nicht schlecht.

König Montan oder: Überdauern im Zwischenland

Im Ruhrgebiet legte die Industrie mit beflissener Assistenz des Staates über das vorhandene agrarische Netz der Dörfer , Felder und Waldgebiete ein brutales, aber grobmaschiges Netz von Strassen, Schienen, Versorgungsleitungen, Kanälen und Bedarfsflächen , das da, wo es den Boden besetzte alles unter sich begrub.

Neben den Zechen und Hochöfen entstanden unvorstellbar chaotische Industriedörfer wie Hamborn, das in 15 Jahren von 6000 auf 100 000 Einwohner explodierte. Man mag sich überhaupt nicht vorstellen, welch ein Gruselszenario an No-Go-Areas sich für den anständigen Leser der Gartenlaube dort auftat.

.In den Nischen dieses regional - und stadtplanerischen Albtraums aber existierte weiter ein unübersichtliches Mosaik von Grünland, Ackerflächen, Waldstücken, Sumpfgebieten, Uferflächen, Deichböschungen, Bauernhöfen und Siedlungsfragmenten. Und hier, in diesem Zwischenland, vor Wolken von Rauch und Wasserdampf zogen weiter die Schäfer mit ihren Herden und wanderten zwischen grauen Häuserzeilen oder entlang der Deichkronen von Weide zu Weide.. Die industrielle Kolonialisierung der Region erfolgte anarchisch und rücksichtslos, aber nicht restlos.

Das In- und Durcheinander von übermächtiger industrieller Monostruktur und vielfältiger zersplitterter Siedlungs - und Raumstruktur umfasste ethnisch und konfessionell bunt zusammengewürfelte bäuerliche Bevölkerungsgruppen, die aus den Armutsgebieten aller Herren Länder herbeigeströmt waren. Es waren Bauern, die lange nur wie Bergleute oder Stahlarbeiter aussahen, aber ihre eigensinnigen, ungleichzeitigen und widerspenstigen Lebenswelten aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Sie bauten in ihren Gärten Obst und Gemüse an wie ehedem und noch bis zur Zechenschließung Anfang der 1960iger Jahre wird aus Neumühl berichtet, dass auf der Lehrerstrasse gelegentlich Schweine herumliefen.

Diese Menschen, die ins Ruhrgebiet strömten, waren für die starren Anforderungen und die Lebenstaktung des industriellen Zentralismus noch nicht zugerichtet und zeigten dazu von sich aus auch wenig Neigung, weil sie diese Zurichtung noch als Übergriff und Zumutung empfanden .Ihre Lebensformen waren an den zyklischen Abläufen und dem natürlichen Auf und Ab von Hitze und Kälte, Frühling, Sommer, Herbst und Winter orientiert und nicht an den unerbittlich linearen Produktionsabläufen der Fabrik, die weder am siebten noch an irgendeinem anderen Tag ruhen durfte.

So musste z.B. ein mit allerlei moralischen Bedenklichkeiten munitionierter Kampf der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit gegen die überaus volkstümliche und hartnäckig gepflegte Tradition des Blauen Montags geführt werden. Es gehörte zum seit alters her gepflegten und jedem vernünftigen Menschen einleuchtenden Brauchtum , nach einem gelungenen, Fest, bei dem auch die eine oder andere Tasse Alkohol getrunken worden war, den nächsten Tag etwas langsamer angehen zu lassen und morgens erstmal auszuschlafen. Das harmonierte nun gar nicht mit den Schichtplänen von Zeche und Stahlwerk. In Hamborn wurde deswegen schließlich als volkspädagogische Notmaßnahme die Kirmes verboten.

Es entstand ein industrielles, politisches, administratives und kulturelles Wimmelbild -ein im Regionalmarketing seit eh und je unterbewertetes Alleinstellungsmerkmal - das mit wechselnden Akzenten bis heute die polyzentrische und von Anfang an multikulturelle Ordnung des Ruhrgebiets prägt.. Der Streit von Experten und Politikern geht seit Jahr und Tag darum, ob darin das Problem oder nicht vielmehr gerade die mögliche Stärke der Region liegt.

Mit dem Untergang der Montanindustrie und ihrer beindruckenden Bauwerke und Maschinen ging auch eine weitere Figur unter, die seit Jahrtausenden Europa begleitete und seit 250 Jahren in Nacht und Gefahr seine industrielle Revolution ermöglicht hatte: der Bergmann. Mit ihm verschwand seine besondere Welt der Kameradschaft und der Solidarität. Unter Tage gegen das lebensbedrohende Gebirge über ihm und über Tage gegen die Übergriffe des Zechenkapitals.

Am Ende wurden in großem Ausmaß Flächen aus dem industriellen Verwertungsdruck entlassen und zu Brachen mit zunächst unbestimmter Nutzungsoption.

Auch auf solchen Flächen weiden heute die Schafe der Ruhrschäferei. Und bei ihren Wanderungen durchs Revier geschieht es mehr als einmal, dass Passanten stehenbleiben und freudestrahlend sagen: Was für ein schönes Bild! Wie in unserer Kindheit auf dem Dorf! Und wenn man dann fragt, wo das Dorf war, sagen sie: In Sizilien! oder: !n Anatolien! Und sie sehen der Herde nach, mit der am Ende der Fabrikgesellschaft, die sie aus ganz Europa hergeholt, hatte, Bilder aufsteigen aus einer Welt, von der sie geglaubt hatten, sie sei vorbei . Aber vorbei ist das Königreich Montan. Was es immer noch gibt, sind die Schäfer.

Ein Zug durch die Gemeinde

Seit einer Woche steht die Herde in Oberhausen Altstaden am Ruhrufer. Für die Menschen ein schöner Blick von den Oberhausener Uferwiesen auf die Mülheimer Seite , für die Schafe leckere Herkulesstaudenblätter . Am nächsten Tag soll es weitergehen nach Rheinhausen zum Rockelsberg. Auf ein Haldenplateau am Rhein mit Panoramablick bis Walsum, Krefeld und über den Duisburger Süden hinweg. Für Mensch und Tier ein nicht ganz einfacher Treck durch Indianergebiet: 15 Kilometer quer durch Duisburg rüber auf die andere Rheinseite.

Zwei Tage vorher ist ohne Vorankündigung die Rheinbrücke der A40 .gesperrt worden, weil ein Riss in der Brückenaufhängung entdeckt worden war .Das führt im ohnehin überlasteten Verkehrssystem zum sofortigen Zusammenbrechen aller Teile. Normalerweise geht unser Weg nach Rheinhausen über die Friedrich - Ebert - Brücke in Ruhrort. Die ist jetzt Umleitungsstrecke mit Stop-and-go-Verkehr. Die Herde ist zwar ohnehin in der Regel im Entschleunigungsmodus und die Schafe lassen sich durch zähfliessenden Verkehr kaum aus der Fassung bringen, aber bei den Autofahrern waren wir uns nicht so sicher. Mit einer Schafherde durch Autokolonnen ziehen, deren Fahrer ohnehin schon am Kabel drehen, schien uns nicht unproblematisch.

Alternativvorschlag: Wir ziehen über die A40! Ein Anruf bei den überraschten, aber freundlichen Kollegen von Straßen NRW, zwei weitere wegen Koordination der Zuständigkeiten rechtsrheinisch und linksrheinisch. Wir garantieren wegen der Brückenstatik, dass die Schafe nicht im Gleichschritt marschieren und die Herde hat grünes Licht.

Zum ersten Mal haben wir an diesem Tag Begleitung von acht Kindern aus einer Jugendeinrichtung samt drei Betreuerinnen und Betreuern. Außerdem eine Kavallerieabteilung mit zwei Ponys unter Führung von Linda . Dazu einen irischen Tinker, ein erfahrenes Wanderreiterpferd, geführt durch den ebenso erfahrenen Wanderreiter Hans, das sich nach wenigen Minuten als vierter Hütehund outet und die Schafe sanft mit der Nase in die gewünschte Richtung schubst.

Die Kinder sind, entgegen den leisen Befürchtungen von Michael, hervorragend gebrieft, was Verhalten im Verkehr und Umgang mit den Schafen angeht. Jedes Kind trägt eine knallgrüne oder knallgelbe Warnweste und die ganze Truppe sieht aus fünfzig Metern Entfernung aus, als ob ein Indianertrupp aus Versehen in die Jahresabschlussübung der Jugendabteilung der Freiwilligen Feuerwehr geraten ist. Zusammen mit der Schafherde ein spektakulärer Eyecatcher, der die oberste Überlebensvoraussetzung im Verkehr sichert: die Aufmerksamkeit der Autofahrer.

Vom Ruhrufer aus geht es los über ein Straßenstück mit Baustelle bis zum Kanal, dann über eine Fußgängerbrücke zum anderen Ufer. Eine Rampe herunter und wir sind auf der B8. Dann am Südrand des Meidericher Stadtparks entlang, unter der Bahn her vorbei an Speditionsbetrieben Richtung Ruhr.

.An einer Einmündung steht ein PKW. Als tretrollergestützter Vortrupp bittet Michael den Fahrer, zu warten, weil eine Schafherde folgt. Der Fahrer reisst die Augen auf: Eine Schafherde? Was? Wirklich? Das glaub ich nicht! Das muss meine Familie sehen! Er fährt den Wagen vor an den Straßenrand und als die Herde vorbeizieht steht er lachend und winkend vor seinem Auto und macht ein Foto nach dem anderen.

Ein Stück weiter hält ein LKW am Rand. Der Fahrer will wissen, ob wir Lammfleisch verkaufen. Linda reitet ! zur Fahrerkabine und überreicht aus dem Sattel eine Visitenkarte der Ruhrschäferei. Mehr Kundenbindung war nie. Was ist dagegen das Internet?

Dann geht es über die Ruhrschleuse zum Ruhrdeich auf der anderen Seite. Eine befahrene Straße, die wir über den parallel verlaufenden Fußweg entlang ziehen. Eigentlich gibt es einen schönen Weg ohne Verkehr am Flussufer entlang. Aber er liegt auf kontaminiertem Gebiet. Florian weiß, dass dort Schafe entlang ziehen, die Moderhinke haben, eine hässliche und schwer zu bekämpfende Klauenkrankheit.

Die Herde der Ruhrschäferei ist frei von Moderhinke. Florian legt den allergrößten Wert darauf, dass das auch so bleibt. Deswegen ziehen wir parallel zu den LKW. Dann über den Kasslerfelder Kreisverkehr. Volles Programm mit PKW, LKW, Straßenbahn. Aber die Herde ist mit Aylas Hilfe zügig durch, kein Löwenzahnnaschen an der Bordsteinkante. .Dann Richtung A40. Nochmal ein Stück mit aufdringlichem LKW - Verkehr, dann an der Auffahrt Duisburg Häfen die Rampe hoch auf die Autobahn, gesperrt in beide Richtungen.

Sofort stellt sich das einzigartige Kulturhauptstadt - Europas - 2010 - Gefühl ein: Still - Leben . Die längste Tafel der Welt. Die ganze A40 von Duisburg bis Dortmund gesperrt für ein Volksfest mit zahllosen Gruppen. Heute ist es ruhiger. Nur ein Fernsehteam vom WDR ist da und der Mensch von Straßen NRW, mit dem wir telefoniert hatten. Gleichmütig ziehen die Schafe, eskortiert von unserer Kavallerieabteilung und den Kindern, die weiterhin keine Ermüdungserscheinungen zeigen unter den riesigen Autobahnschildern her über den Rhein. .Auf der anderen Seite die Abfahrt runter quer über die Landstraße und rüber zum Rheindeich. Mit der Herde runter zum Wasser, aber die Schafe scheinen wenig Durst zu haben. Allmählich kommt der Rockelsberg in Sicht. Den Deich entlang und in einer langen Karawane ziehen wir den Weg hoch über die Kuppe bis auf das Plateau. Die Herde verteilt sich auf der Fläche und sucht leckere Kräuter. Der Rundumblick von hier oben ist immer wieder eindrucksvoll. Gregor ist mit PKW und Transporthänger hochgefahren. Florian fängt an, die Netze zu auszuräumen und das Terrain für die Schafe abzustecken Alle Schafe und alle Kinder haben den Trail gut überstanden und sind wohlbehalten auf eigenen Füssen angekommen. Waldwege sind schön. Aber wir können auch Grosstadt.

..Ein warmer, farbenprächtiger Indianersommer geht zu Ende. Schon gibt es die ersten kalten Nächte. Bald beginnt die Lammzeit. In sechs Wochen ist Weihnachten Begeht es wie die Hirten auf dem Feld in einer Nacht unter Sternen und mit ein wenig Nachdenklichkeit. Aber fürchtet euch nicht.

Das wünscht euch FLORIAN und das Team der RUHRSCHÄFEREI.

Kategorie: 

Aktualisiert: 28.12.2017 13:18:30