10.06.2021
Hirtenbrief Nr 22
DAS FRÜHJAHR KOMMT. WACH AUF DU CHRIST!
Nachdem Anfang April das erste vielversprechende Grün auf den Sträuchern zu sehen war, konnte von lauen Frühlingslüften trotzdem keine Rede sein. Zwar waren wie beim Osterspaziergang des Doktor Faust Strom und Bäche vom Eise befreit, das es allerdings den ganzen Winter kaum gegeben hatte, aber des Frühlings holder, belebender Blick blieb doch eher unangenehm schattig. Die dünne gefrorene Oberfläche, die sich nachts auf Tränken und Pfützen gebildet hatten und die die Hunde morgens mit vorsichtigem Pfotendruck aufbrachen, verschwand an manchen Tagen erst in der Mittagssonne, sofern die hinter Regenwolken überhaupt zu sehen war. Es folgte ein Monat mit unfreundlich kalten Nächten und immer wieder reichhaltigen Regengüssen . Die Meteorologen sagten uns zwar, dass die Regenmenge nicht überdurchschnittlich hoch sei, und wenn jemand schon mal die ersten Kartoffeln oder Tulpenzwiebeln setzen wollte, stellte er fest, dass der Boden nach einer Spatentiefe immer noch hart und staubig war. Sie waren sich aber einig, dass der Monat ungewöhnlich kühl war.Gut, das hätten wir auch ohne Meteorologen gemerkt. Lange verharrten Gras und Wiesenkräuter in einem misstrauischen Ruhezustand, als ob sie dem länger werdenden Tageslicht nicht trauten und Schäfer und Bauern registrierten missmutig, dass die Zeit der teuren Winterfütterung wohl länger dauern würde als erhofft.
IM MÄRZEN DER BAUER .
Dass im März die Rösslein angespannt wurden, ist inzwischen eine Weile her. Instandzusetzen ist aber im Frühling weiterhin eine Menge und weder Bauer noch Bäuerin noch die rar gewordenen Mägde dürfen ruhen und rühren weiterhin ihre Hände von früh bis spät. Das gilt auch für Schäfer .
Die Ruhrschäferei hatte im März ein stattliches Arbeitsprogramm vor sich. Am Monatsbeginn zog die Herde zum Gelände am Stall und wir warteten auf den Beginn der Lammzeit. Florian und Gregor bereiteten die Buchten vor und eine grosse neue Futterraufe wurde angeliefert.
Zur gleichen Zeit stand aber noch ein weiteres Grossprojekt auf der Tagesordnung. Ein kleiner Schritt für die Weidewirtschaft, aber ein grosser Schritt für die Ruhrschäferei: Die Erweiterung des Stalls.
Ihr erinnert euch? Der Stall, der in der sagenhaften Anfängen der Ruhrschäferei noch mit Blick auf 25 Hektar wildwuchernde Brachfläche gebaut wurde. Auf der hatte sich einstmals ein Teil der Nationalen Kohlenreserve befunden, die in den Zeiten, als es im Winter noch geschneit hat, den Autofahrern am Oberhausener Kreuz den unerwarteten, aber romantischen Anblick schneebedeckter Berggipfel bot, den es woanders nur oberhalb der Baumgrenze gab. Auf der Fläche, die sich dann Jahrzehnte später in eine Schlammwüste verwandelte, als sie aufgetürmt wurde zu dem Hochplateau, auf dem sich jetzt, einer Festung gleich, die gigantischen Hallen grosser Versandfirmen entlangziehen und an deren Fuss das Magerrasenbiotop liegt, an dessen Rand damals der Stall errichtet wurde.
Dieser Stall, der mit der Hilfe von vielen Freunden und Freundinnen gebaut wurde, unter dem später von einem grossen Baumarkt übernommenen Motto : RESPEKT, WERS SELBER MACHT, sollte erweitert werden. Die Pläne waren fertig, Fred ,der Statiker hatte die Konstruktion begutachtet und zu einigen Verbesserungen geraten und Florian und Gregor waren zuversichtlich, die Erweiterung noch vor der Geburt der ersten Lämmer abschliessen zu können.
Aber, das wissen der wenigsten : Schon der ehrwürdige, seit Jahrhunderten von Generation zu Generation überlieferte IMMERWÄHRENDE KALENDER enthält die auf reiche Lebenserfahrung gestützte uralte Bauernregel: Ja mach nur einen Plan. Sei nur ein grosses Licht. Und mach noch einen andren Plan. Gehn tun sie beide nicht.
Folgendes stellte sich heraus: Zwar waren die Dachbleche schon angeliefert, das Holz bestellt und bezahlt, aber im Land der klimabedingten Dürre und des daraufhin triumphierenden Borkenkäfers wurde das Holz knapp. Es gab dann dazu folgende, in sich keineswegs widerspruchsfreie Erklärung:
- Die toten Bäume führen zu einem Übermass an Angebot auf dem Markt, weil das geschädigte Holz schnell an Qualität verliert und zu Dumpingpreisen verramscht werden muss, weswegen die Waldbesitzer vor dem Ruin stehen.
-Das hanebüchen billige Holz wird in rauen Mengen von den unersättlichen Chinesen aufgekauft und, statt wie früher mit halsbrecherischen Flossfahrten vom Schwarzwald nach Rotterdam, stattdessen in endlosen Geleitzügen von holzgefüllten Containerschiffen ins Reich der Mitte transportiert. Andrerseits aber auch in die USA , weil die dortigen, ohnehin oft minderwertigen Holzhäuser den klimabedingt vermehrten Hurricanes nicht gewachsen sind und so trotz Corona die Baukonjunktur anzieht. Oder so ähnlich.
-Das führt dazu, dass der Markt nicht etwa mit Holz geflutet, sondern leergefegt ist, weswegen die Preise für Holz explodieren, die Waldbesitzer aber trotzdem nicht steinreich werden, sondern stattdessen die Sägemühlenbesitzer oder sonstige lumpigen Zwischenhändler, die den Waldbesitzern davon aber nichts abgeben. Im Ergebnis ist das schadensbedingt im Übermass anfallende Holz plötzlich unverschämt teuer und gleichzeitig nicht lieferbar.
Kurz: die Lage ist wie beim Öl, wo ja auch jeder x - beliebige Umstand, egal ob günstig oder ungünstig, im Ergebnis immer dazu führt, dass das Benzin teurer wird.
Für uns hiess das: alles war für die Stallerweiterung vorbereitet, aber leider gab es kein Holz. Sechs Wochen lang.
Ein zweiter misslicher Umstand ergab sich, als bei er Planung der Erweiterung offenbar wurde, dass vor Jahren durch einen falschen Fehler bei der Grundstücksvermessung die wirklichen Grundstücksgrenzen nicht da verliefen, wo alle Beteiligten sie vermutet hatten.
In diesem Fall ein technisches Versehen. Nicht etwa so, wie in den westfälischen Sagen, wo als offenbar verbreiteter Bestandteil des ländlichen Brauchtums ein Bauer ,der zu Lebzeiten zum Nachteil seines Nachbarn im Morgennebel den Grenzstein versetzt hatte, nach seinem Tode als fahler Wiedergänger Nacht für Nacht mit haarsträubend ächzenden Begleitgeräuschen den Stein wieder an seine ursprüngliche Stelle verbringen muss. Wir haben solches am Stall jedenfalls nie gesehen oder gehört.
Das bedeutete allerdings für die Schäferei, dass in des Wortes eigentlicher Bedeutung Berge versetzt werden mussten. Der Glaube allein würde dafür nicht ausreichen, jedenfalls nicht unserer. Also mit Bordmitteln ca. 100 Meter Stabgitterzaun abbauen, mit maschineller Unterstützung durch einen freundlichen kooperierenden Betrieb eine vier Meter hohe Böschung mit ungezählten Tonnen Muttererde um mehrere Meter zurückbauen und flächig verteilen. Dann in betonhartem Boden, der keinem Erdbohrer eine Chance liess, mit Hilfe eines Abbruchhammers wie ehedem beim Kohle brechen auf Zeche Rosenblumendelle den Stabgitterzaun wieder aufstellen.
Gut, wir wollen nicht klagen. Multitasking ist für Schäfer, die einem vermutlich von Herrmann Löns verschuldeten, ebenso rätselhaften wie irrigen Volksglauben zufolge meistens entschleunigt in der Heide herumstehen, ein leichtes.
Konkret hiess das , dass ERSTENS inzwischen die Lammzeit eingesetzt hatte. Tag für Tag waren ein Dutzend neugeborene Lämmer und ihre Mütter zu versorgen und einzubuchten in der Mutter und Kind - Box. Rooming - In, heute ein Muss für jede zeitgemässe Säuglingsstation, war in der Schäferei schon lange üblich. Dann Babyflaschen für die Flaschenlämmer zubereiten und den Kleinen das Fläschchen geben ohne sich dabei umrennen zu lassen. Ausserdem tonnenweise Maissilage heranschaffen und per Hand der Herde in die Futtertröge schaufeln. Last not least sieben hungrige Hunde versorgen.
ZWEITENS und parallel dazu, nachdem das Holz endlich eingetroffen war, Holzgerüste zimmern und aufstellen für die Stallerweiterung. Danach das Dach decken.
Gleichzeitig DRITTENS die genannten Erd - und Zaunarbeiten erledigen. Das Ganze Tag für Tag begleitet von kaltem Wind und immer wieder strömendem Regen. Schäfer erledigen sowas locker.
Und nochmal zum Thema PLAN: Gar nicht eingeplant war dann noch eine Sepsis, gemeinhin Blutvergiftung genannt in Florians rechtem Arm. Mit Hilfe von Freunden und einer Frontalattacke aller Substanzen, die die pharmazeutische Industrie zu bieten hat, konnte ein von den Ärzten verlangter stationärer Krankenhausaufenthalt unter Zurücklassung von 450 Schafen vermieden werden. Ganz besonderer Dank an Larissa und Dirk - aber auch an andere hilfreiche Geister die hier und da und wo es gerade nötig ist unterstützen , mit Bitte um Vergebung an alle namentlich nicht Genannten. Und Dank an dieser Stelle natürlich auch , last not least, an die vielem vielen Paten.
SCHAFSCHUR Seit gestern ist die Herde geschoren. Pünktlich zwei Tage vorm Termin hörte der Regen auf . Nassrasur geht nicht, beim Scheren muss die Wolle trocken sein . Eine meist falsch zitierte Redewendung heisst deswegen eigentlich : Scher mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Während der Schur herrscht ein ohrenbetäubender Lärm. Weniger vom Stromgenerator und dem Schnarren der Schermaschinen, als vom empörten Blöken der Lämmer, die während der Schur von den Müttern getrennt sind. Sobald sich alle Lämmer und die geschorenen Mütter wiedergefunden haben , was einige Minuten dauert, kehrt Ruhe ein.
Scheren heisst auch, dass die Ruhrschäferei seit gestern knapp Tausend Euro weniger, aber 500 Kilo Rohwolle mehr hat, die vermutlich einstweilen kaum verkäuflich sein werden - nicht nur, weil die Container, mit denen die Wolle früher nach China transportiert wurde, gerade mit Borkenkäferramschholz belegt sind. Wer Rohwolle braucht, um sie als Dünger auf den Beeten in seinem Garten zu verwenden: Das geht auch , ohne sie vorher zu Pellets zu verarbeiten..
Von einem Schäfer aus Telgte kommt der Hinweis, dass ein schmucker grob geflochtener Zopf aus Rohwolle, um den Baumstamm gewickelt, die Larve des Eichenprozessionsspinners daran hindert , den Baum zu erklimmen oder zu wechseln. Vielleicht könnt ihr damit ja einen hubschraubergestützten Sprühangriff auf eure Dorfeiche verhindern. Auch für Schnecken stelle eine Barriere aus Rohwolle ein unübersteigbares Hindernis und damit die Rettung für manchen Salatkopf dar. Für weitere Anwendungsmöglichkeiten setzen wir eine Belohnung aus in Höhe von ein bis drei Kilo RUHRSCHÄFEREI ROHWOLLE. Bis auf weiteres gilt: Es ist noch Wolle da.
JESAJA 65-25.
Ein windiger Tag. Im Pferch liegt einer der weissen Berghunde und beobachtet bewegungslos einige Spaziergänger am Waldrand. Neben ihm steht ein vier Wochen altes Lamm, das vertrauensvoll seinen Kopf an den Kopf des weissen Riesen legt. Der reagiert mit einer vorsichtig anschmiegenden Geste . Geschwisterliche Nähe und ein bisschen Paradies. Das Lamm nicht. wie bei Jesaja im Alten Testament, neben dem Wolf, aber neben dem Wolfsjäger . So geht Frieden auch. Nur die Schlange muss weiter Staub fressen.
Morgen zieht die Herde weiter auf die andere Rheinseite. Die Wanderzeit hat wieder begonnen. Endlich.
Was wird der Sommer bringen?
Wir hoffen, es wird eine gute Zeit - für euch, für uns und für die Herde.
Florian und das Team der Ruhrschäferei
Aktualisiert: 10.06.2021 08:25:37